Die Grüne Revolution: Held oder Henker?

Am Tag nach der Unabhängigkeit Indiens waren sich alle internationalen Experten einig, dass Indien mit seiner kaum entwickelten Landwirtschaft und seiner explodierenden Bevölkerung in eine Hungersnot stürzen würde. Der damalige Premierminister Nehru erklärte sogar: "Alles andere kann warten, nur nicht die Landwirtschaft". Das Land schlug alle Prognosen in den Wind, indem es auf die Grüne Revolution setzte: eine massive Industrialisierung der Landwirtschaft. Unmittelbar nach der Unabhängigkeit wurden erstmals Pestizide eingeführt, bald darauf folgten GVOs und schwere Maschinen.

Doch während die Grüne Revolution die Menschen vorerst ernähren konnte, könnte sie sie heute in eine Hungersnot stürzen. Die übermäßig genutzten Böden sind heute nährstoffarm und können kein Wasser mehr speichern. Dieses Phänomen, das als Bodenverödung bezeichnet wird, ist in einigen Staaten wie Rajasthan besonders heftig, wo 60% der Böden mittlerweile rissig sind. Der unvernünftige Einsatz von Pestiziden hat die Insektenpopulation und insbesondere die Bestäuber dezimiert, aber auch das Grundwasser verschmutzt. Diese Bedingungen treiben die Landwirte in so prekäre Situationen, dass es in Indien seit 1990 zu einer Welle von Selbstmorden unter den Bauern gekommen ist. Sie betrifft vor allem die zentralen und westlichen Bundesstaaten wie Maharashtra, der am stärksten betroffen ist.

Glücklicherweise sind andere Landwirte fest entschlossen, ebenfalls ihre Resolution zu führen. Der Bio-Sektor ist zwar noch in der Minderheit, boomt aber. Sikkim, ein von Nepal und Butan umgebener Staat, ist in dieser Hinsicht ein Vorbild: Seit 2015 ist er zu 100 % biologisch. Im Süden des Landes, in Andhra Pradesh, haben Wasserknappheit und schlechte Bodenqualität die Regierung dieses Agrarstaates dazu veranlasst, ihr Landwirtschaftsmodell völlig neu zu überdenken. Sie hat ein Gemeinschaftsprogramm für natürliche Landwirtschaft ins Leben gerufen, das zwar kein Bio-Siegel trägt, aber dennoch ohne chemische Hilfsmittel auskommt. Die vom Staat ausgebildeten Bauern haben nun chemische Düngemittel durch Pferdemist ersetzt und ihren Böden neues Leben eingehaucht. Sie bilden nun das größte Agrarökologieprojekt der Welt!

Respekt vor der Natur: eine Frage der Religion

Da vier von fünf Indern Hindus sind, könnte die Lösung für Umweltprobleme durchaus religiös sein. Diese polytheistische Religion basiert auf einem tiefen Respekt vor der Natur. Sie basiert auf einem System der Hierarchisierung der Menschen in Kasten, die ihrer spirituellen Reinheit entsprechen. Auch Tiere gehören zu diesen Kasten, denn der Hinduismus betrachtet den Menschen als Teil der Natur und nicht als getrennt oder gar überlegen. Kühe, Ratten, Eichhörnchen, Schlangen, Affen und viele andere werden geheiligt und verehrt.

In einigen Hindugemeinschaften ist dieser Respekt vor der Natur sogar noch grundlegender. Dies gilt für die Bishnoi, eine Gemeinschaft von 700.000 Menschen, die vor allem in Rajasthan beheimatet ist. Ihre Ideologie basiert auf einem tiefen Respekt für alles Lebendige, was so weit geht, dass es verboten ist, ein Tier zu töten oder einen lebenden Baum zu fällen, dass alle Mitglieder Vegetarier sind und dass sie einen Teil ihrer Ernte mit den Wildtieren teilen müssen. Im Jahr 1730 wurde ein großes Massaker an ihnen verübt, als sie sich gegen das vom Maharadscha angeordnete Fällen von Bäumen wehrten, indem sie ihre Arme um sich schlossen.

Auch wenn es schwierig ist, von Ökologie zu sprechen, ist der Respekt vor der Natur im Hinduismus wie auch im Buddhismus tief verwurzelt. Ein Großteil der indischen Bevölkerung sieht sich mit anderen Lebewesen verbunden und muss diese schützen. Auch wenn diese Spiritualität durch zwei Jahrhunderte britischen Kolonialismus untergraben wurde, könnte sie nach Ansicht vieler Denker der Schlüssel zur ökologischen Krise sein, in der sich Indien befindet.

Rekorde in der Umweltverschmutzung

In Indien gibt es 39 der 50 Städte mit der höchsten Luftverschmutzung der Welt im Jahr 2022, so die Rangliste des Schweizer Instituts für die Analyse der Luftqualität IQAir. Angeführt wird die Liste von Bhiwadi (Rajasthan), einer Stadt etwa 60 km von Neu-Delhi entfernt, die selbst auf Platz zwei der Rangliste steht. Schuld daran sind die Abgase von Fahrzeugen, die Dämpfe der Industrie, aber auch der Anbau von Brandrodung. Diese landwirtschaftliche Methode, die in den nordindischen Bundesstaaten, die am stärksten von der Umweltverschmutzung in Indien betroffen sind, verbreitet ist, besteht darin, die Felder am Ende der Erntezeit mit Feuer zu säubern.

Bisher sind die Lösungen angesichts des Ausmaßes des Problems noch zu schwach. Neu-Delhi führt nach und nach eine Politik ein, die den Kauf von Elektrofahrzeugen durch Zuschüsse für Verbraucher oder die Befreiung von Straßengebühren fördert. Viele Probleme bleiben jedoch bestehen, wie z. B. der Mangel an Stromtankstellen, wenn man die Hauptstadt verlässt. Bisher sind nur 1 % der Fahrzeuge in der Stadt mit Elektroantrieb unterwegs, die damit zum fünften Mal in Folge die Hauptstadt mit der höchsten Luftverschmutzung der Welt ist. Auch auf nationaler Ebene fehlt es an politischen Maßnahmen. Dabei ist die Luftverschmutzung jedes Jahr für den Tod von 1,6 Millionen Indern verantwortlich.

Berge von Müll

Es ist schwierig, den Abfall von 1,4 Milliarden Menschen zu entsorgen. Da es keine Infrastruktur gibt, um ihn zu lagern, zu sortieren und zu recyceln, türmt er sich in zahlreichen offenen Mülldeponien. Die Ghazipur-Mülldeponie in Neu Delhi ging sogar durch die internationale Presse: Mit seinen 75 m Höhe überragt dieser Müllberg mittlerweile das Taj Mahal! Dennoch stellen diese Deponien ein großes Risiko für die öffentliche Gesundheit dar, da die Anwohner gezwungen sind, mit Ratten und anderem Ungeziefer zusammenzuleben oder giftige Gase einzuatmen, die durch die Gärung des Mülls entstehen.

Im Jahr 2014 rief Premierminister Narendra Modi das Programm Clean India Mission ins Leben, um die hygienischen Bedingungen zu verbessern. Das Programm führte zu einer Säuberung der Straßen, einer Organisation der Abfallwirtschaft und einer Implementierung des Recyclings, die jedoch noch zu zaghaft ist. Bis 2022 hat die Regierung außerdem die Verwendung bestimmter Einwegkunststoffe verboten. Auch wenn diese Bemühungen noch zu schwach sind, ist eines jedoch unbestreitbar: Indien ist heute etwas sauberer als früher.

Die Regierung kann auch auf die Mobilisierung eines Teils der Bevölkerung zählen. So gibt es im ganzen Land immer mehr Säuberungsprojekte, die von Bürgern oder Vereinen durchgeführt werden. Im Jahr 2015 wurde der Strand von Versova in Mumbai (Bombay) vollständig von Müll befreit. Dutzende Bürger schlossen sich der Sache eines Mannes an, der beschlossen hatte, den Strand mit einer 1,5 m dicken Schicht aus Plastikmüll zu verschönern. Sechs Jahre waren nötig, um die 5 000 Tonnen Müll zu entfernen. Die Mühe hat sich gelohnt: Der gesäuberte Strand wurde wieder zum Eiablageplatz für Meeresschildkröten, die ihn zuvor verlassen hatten.

Ein Klima in zwei Phasen

Indien hatte früher feste Jahreszeiten, doch heute polarisiert sich das Klima. Es gibt nun eine Saison mit extremer Trockenheit und eine andere mit zu starkem Monsun. Laut einer Studie des Zentrums für Wissenschaft und Umwelt erlebte das Land im Jahr 2022 fast jeden Tag extreme Wetterphänomene: Hagel- oder Staubstürme, Überschwemmungen, Erdrutsche, Dürren, Wirbelstürme, Hitzewellen, Kälteeinbrüche usw

Die immer länger und intensiver werdenden Dürren sind umso gefährlicher, wenn sie sich mit einem schlechten Wassermanagement auf nationaler Ebene vermischen. Wie der Abfall profitiert auch das blaue Gold von zu wenig Infrastruktur für die Lagerung und Aufbereitung, während die Grundwasservorkommen vor allem durch die Landwirtschaft übernutzt werden. So war Indien 2022 gezwungen, die Weizenexporte zu stoppen, um seine eigene Nahrungsmittelsicherheit zu gewährleisten, nachdem eine weitere Dürre die Ernten ausgedünnt hatte.

Das Land der 100 Nationalparks

In Indien gibt es über 100 Nationalparks und zahlreiche weitere Gebiete, die durch andere Statuten geschützt sind. Sie sind oftmals Zufluchtsorte für eine Artenvielfalt, die durch die ökologische Krise des Landes bedroht ist. So ist der Keoladeo Ghana Nationalpark, einst Jagdgebiet des Maharadschas, heute ein Tempel für eine manchmal sehr seltene Vogelwelt. Er beherbergt zum Beispiel den Sibirischen Kranich, einen der am stärksten vom Aussterben bedrohten Vögel der Welt.

Der Gir-Nationalpark wiederum ist der einzige Ort auf der Erde, an dem Asiatische Löwen(Panthera leo persica) in freier Wildbahn leben. Diese Unterart des Löwen, die einst in ganz Südasien bis nach Arabien reichlich vorhanden war, findet hier ihr letztes Refugium. Die gute Nachricht: Seine Population neigt dazu, im Park zu wachsen. Um den Verlust dieser einen Population zu verhindern, hat die Regierung ein Programm zur Wiederansiedlung des Asiatischen Löwen in anderen Regionen ins Leben gerufen.

Es gibt zahlreiche solcher Programme, die auf die Erhaltung verschiedener Tiere abzielen. Das bekannteste ist sicherlich das Project Tiger, das seit 1973 die Wiederansiedlung des Bengalischen Tigers in zahlreichen Parks des Landes ermöglicht. Der erste von ihnen, der daran teilnahm, war der Corbett National Park. Das Programm hat dazu beigetragen, dass sich die Population des Bengalischen Tigers im Land mehr als verdoppelt hat.