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Lebensbedingungen

Sie sind eher schwierig und sind heute der Hauptgrund für die Abwanderung der Bevölkerung und den Bevölkerungsrückgang. Gemessen am Pro-Kopf-BIP ist Bosnien und Herzegowina das sechstärmste Land in Europa. Im Jahr 2022 lag die Arbeitslosenquote bei 16% (37% unter Jugendlichen), während der durchschnittliche Monatslohn 564 € betrug. Zum Vergleich: In Frankreich lag dieser bei 1.789 €. Die Lebenshaltungskosten sind hier jedoch insgesamt nur halb so hoch. Die Bosnier profitieren auch von relativ effizienten medizinischen und sozialen Einrichtungen, die sie aus dem sozialistischen Jugoslawien geerbt haben. Trotz der Abwanderung von Ärzten und eines Mangels an Ausrüstung bietet das Gesundheitssystem immer noch eine qualitativ hochwertige Versorgung, die weit über dem weltweiten Durchschnitt liegt. So liegt die durchschnittliche Lebenserwartung bei 77,2 Jahren gegenüber 81,3 Jahren in der Europäischen Union. Die BIP-Wachstumsrate liegt seit 2015 bei über 3 % pro Jahr, außer 2019 (-3 %) aufgrund der Covid-19-Krise, was jedoch durch einen Anstieg um 7 % im Jahr 2021 wieder wettgemacht wurde. Allerdings leben 17 % der Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze. Die Mehrheit der Einwohner muss sich selbst helfen, um zu überleben. So bleibt in den langen und kalten Wintern Brennholz der wichtigste Brennstoff, auch in den Großstädten. Dies erklärt zum Teil die sehr hohe Luftverschmutzung in Sarajevo.

Lebensstile

In einem immer noch sehr ländlichen Land (nur 50 % der Bevölkerung lebt in Städten) sind die alten Traditionen nach wie vor fest verankert. Der Konflikt von 1992-1995, die ständigen Kontakte mit der Diaspora im Westen und die neuen Technologien haben die Lebensweise der Menschen verändert. Seit dem Krieg hat der Zusammenschluss von Gemeinschaften in verschiedenen geografischen Gebieten dazu geführt, dass das uralte komšiluk , die Kunst des Zusammenlebens von Bosniaken, Bosno-Serben und Bosno-Kroaten in einem Dorf oder einer Nachbarschaft, fast vollständig verschwunden ist. Aber im Allgemeinen bestehen die aus der osmanischen Zeit übernommenen orientalischen Einflüsse weiter: Das Wort der Ältesten und der religiösen Autoritäten wird respektiert, die Familien gehen abends gerne auf dem Corzo (Hauptfußgängerstraße in den Balkanstädten) spazieren und treffen sich an großen Tischen zu langen und lebhaften Mahlzeiten, man nimmt sich Zeit, um mit Kollegen oder Freunden bei einer Tasse Kaffee zu plaudern, man hilft sich gegenseitig bei der Feldarbeit etc. All das mag ein wenig klischeehaft klingen, ist aber dennoch Realität. Ebenso real ist die Anziehungskraft der Moderne. Davon zeugen die glänzenden Einkaufszentren in den größeren Städten, die Bedeutung der sozialen Netzwerke und die überall laufenden Fernseher, auf denen die Spiele der Premier League oder die neuesten Musikvideos von Beyoncé, Dua Lipa und The Weeknd übertragen werden. Gleichzeitig nimmt die Nostalgie einen zentralen Platz ein. Laut einer Gallup-Umfrage im Jahr 2017 gaben 77 Prozent der Bosnier an, dass sie die Zeit des sozialistischen Jugoslawiens vermissen. Eine "Jugostalgie", die sich in der Einrichtung vieler Restaurants und Bars, wie dem Caffe Tito in Sarajevo, manifestiert. Die Einwohner fantasieren auch über weiter zurückliegende Zeiten. Seit den 2010er Jahren ist das "Folkloredorf"(etno cela) in Mode gekommen: Überall im Land werden in Erholungsgebieten traditionelle Behausungen aus dem 18. und 19. Jahrhundert nachgebaut und um ein Restaurant oder Hotel herum errichtet. Doch dieses Phänomen kann nicht über die echten alten Dörfer hinwegtäuschen, die sich aufgrund von Krieg, Abwanderung und staatlichem Desinteresse in den ländlichen Gebieten leeren.

Der Platz der Frauen

Die bosnische Gesellschaft ist sehr patriarchalisch mit starken Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen. Letztere hatten jedoch während der Zeit des sozialistischen Jugoslawiens von großen Fortschritten profitiert. Der Krieg von 1992-1995 brachte dies jedoch ins Wanken: Während sich die verschiedenen Gemeinschaften um eine konservative Religionsauffassung gruppierten, eroberten einige der Männer, die gekämpft hatten, die wirtschaftlichen und politischen Machtpositionen. Frauen hingegen wurden durch den Konflikt geschwächt: Viele von ihnen waren allein und arbeitslos, und Vergewaltigungen wurden von den bosnisch-serbischen Streitkräften systematisch als Terrorinstrument eingesetzt. Auch heute noch sind Frauen stärker von Arbeitslosigkeit betroffen: Nur 40% von ihnen haben eine bezahlte Arbeit, während es bei den Männern 65% sind. Der Zugang zum Arbeitsmarkt wird durch das Fehlen von Einrichtungen zur Betreuung von Kleinkindern erschwert. Um wettbewerbsfähig zu bleiben, verzichten viele Frauen darauf, Kinder zu bekommen. Die Fertilitätsrate ist daher die niedrigste in den Balkanländern: 1,24 Kinder pro Frau im Jahr 2020. Darüber hinaus geben laut einer 2019 veröffentlichten OSZE-Studie 48 % der Bosnierinnen an, bereits Opfer von sexistischer oder sexueller Gewalt geworden zu sein. Diese Zahl ist zwar alarmierend, aber niedriger als in den meisten Ländern der Region (z. B. 67 % in Albanien und 64 % in Serbien). Dies ist zum Teil auf einen besseren Schutz durch die Institutionen zurückzuführen. Im Rahmen der Bewerbung um den EU-Beitritt hat das Land 2003 ein Gesetz zur Gleichstellung der Geschlechter und 2016 ein weiteres gegen die Diskriminierung von Frauen verabschiedet. Auf politischer Ebene sieht das Gesetz von 2003 u. a. vor, dass bei Wahlen mindestens 30 % der Kandidaten weiblich sein müssen. Dennoch stellen Frauen nur 17 % der gewählten Volksvertreter.

Sexuelle Minderheiten

Man muss seine Vorurteile beiseite schieben: In der größten muslimischen Stadt des Landes kann sich die LGBT+-Gemeinschaft zeigen. Sarajevo ist zwar nicht San Francisco, aber sexuelle Minderheiten genießen hier eine größere Toleranz als in Banja Luka oder Mostar. In der Hauptstadt wurde der erste "Pride March" in Bosnien und Herzegowina mit 2.000 Teilnehmern im September 2019 veranstaltet. Zwar war dieser 2020 wegen Covid-19 abgesagt worden, was vom Großimam der islamischen Gemeinschaft als "Geschenk Allahs" begrüßt wurde. Doch die Veranstaltung findet nun (im Juni) friedlich statt, ohne allzu viele schockierende Kommentare zu provozieren. Im Rest des Landes hält sich die Gemeinschaft bedeckt. Diskriminierung ist nach wie vor weit verbreitet. Diskriminierungen sind jedoch seit 2003 gesetzlich verboten. Seit 2016 gibt es auch ein Gesetz über Hassverbrechen, das die Geschlechtsidentität und die sexuelle Orientierung einschließt. Gleichgeschlechtliche Beziehungen wurden im jugoslawischen Staat bereits 1971, elf Jahre vor Frankreich, entkriminalisiert. Im Jahr 2022 bereitete das nationale Parlament ein Gesetz vor, das der LGBT-Gemeinschaft neue Rechte und einen besseren Schutz gewähren sollte. Der Entwurf sieht einen Rechtsstatus für gleichgeschlechtliche Paare oder auch Unterstützung für Menschen vor, die ihr Geschlecht ändern möchten. Nicht-heterosexuellen Touristen wird generell empfohlen, sich nicht offen im öffentlichen Raum zu zeigen, insbesondere in der Republika Srpska, wo die serbisch-orthodoxe Bevölkerung am wenigsten tolerant ist. Schließlich gibt es in Sarajevo zwar keine Bars oder Diskotheken, die die Regenbogenflagge zeigen, aber in einigen Lokalen werden regelmäßig LGBT-Partys veranstaltet.

Freiheiten

Die Gesetzgebung garantiert die persönlichen Freiheiten. Mehrere internationale Berichte weisen jedoch auf tief greifende Probleme hin. Das US-Außenministerium verweist auf schwere Übergriffe durch die Polizei, die mangelnde Unabhängigkeit der Justiz, die Verletzung der Rechte von Frauen, Kindern und Minderheiten sowie auf Drohungen und Gewalt gegen Journalisten. Ausländische Beobachter stellen jedoch fest, dass es große Unterschiede zwischen den einzelnen Entitäten gibt. Missbrauch wird vor allem in der Republika Srpska (Bosnien und Herzegowina) festgestellt. Dort wird ein "autokratisches Abdriften" des örtlichen Präsidenten Milorad Dodik und seiner ultranationalistischen Partei SNSD/СНСД (Allianz der unabhängigen Sozialdemokraten) beklagt. Dies äußert sich in starken polizeilichen Repressionen gegen Oppositionsgruppen und häufigen Personenkontrollen ohne ersichtlichen Grund - wir haben das mehrfach erlebt. Was den einflussreichen öffentlichen Rundfunk der Entität, RTRS/РТРС, betrifft, so präsentiert er die Nachrichten nach den Ansichten von Milorad Dodik. In der von Reporter ohne Grenzen erstellten Weltrangliste der Pressefreiheit ist Bosnien und Herzegowina von Platz 58 unter 180 Ländern im Jahr 2021 auf Platz 67 im Jahr 2022 gesunken. Die Lage auf dem Balkan ist ohnehin nicht besonders rosig, da beispielsweise Griechenland im Jahr 2022 auf Platz 108 rangiert. Die Organisation stellt jedoch fest, dass die Situation für die in Sarajevo ansässigen Journalisten trotz der oft prekären wirtschaftlichen Bedingungen wesentlich besser ist.

Moderne Mythen

Das Land pflegt noch immer alte Geschichten über Feen, mutige Haidouks (Räuber), die den Osmanen trotzen, oder fiktive Helden wie Nasr Eddin Hodscha, der von der Mongolei bis zum Balkan bekannt ist. Seit dem letzten Krieg haben sich die drei großen Gemeinschaften jedoch jeweils um neue, moderne Mythen gruppiert. Ein ganzer Teil der Bosniaken und ihrer politischen Vertreter unterstützt die seltsame Theorie der "bosnischen Pyramiden": Um Visoko in der Nähe von Sarajevo sollen mehrere pyramidenförmige Hügel in Wirklichkeit die Überreste einer alten Zivilisation sein, die mit Außerirdischen in Verbindung steht. Die Mehrheit der Bosnokroaten glaubt an die wiederholten Erscheinungen der Jungfrau Maria in Međugorje: Ein Wunder, das vom Vatikan nicht anerkannt wird und dennoch jedes Jahr 2 Millionen Pilger in das Weindorf in der Herzegowina lockt. Schließlich sind die Bosnien-Serben größtenteils davon überzeugt, dass sie sich im letzten Krieg nur "verteidigt" haben, indem sie die unzähligen Massaker, die von ihren Truppen verübt wurden, zu vergessen vorgaben.