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Neue Inspirationen für eine neue Kunst

Das Europa des frühen 20. Jahrhunderts erlebte eine rasante Industrialisierung und gleichzeitig wichtige kulturelle und soziale Reformen. Die aufstrebenden Künstler dieser Zeit wollten ebenfalls aus den starren und sklerotischen Modellen ausbrechen und kamen zu dem Schluss, eine neue Kunst zu erfinden - den Jugendstil. Innovativ sicherlich, aber genährt von zahlreichen Einflüssen, unter denen drei besonders hervorstechen: das Werk von Viollet-le-Duc, die japanische Kunst und die Arts and Crafts-Bewegung. Diese Strömungen teilten Merkmale, die der Jugendstil weitgehend übernahm: Respekt vor dem Material, Offenheit und Ehrlichkeit in der Konstruktion, keine Unterscheidung zwischen kleineren und größeren Künsten und die Notwendigkeit, ein organisches Ganzes zu schaffen. Von der japanischen Kunst übernahm er auch die Beziehung zur Natur, deren subtilste Veränderungen die Kunst zum Ausdruck bringen sollte.

Der Jugendstil schließt aber auch die Beiträge der Moderne nicht aus. Wo manche Kritiker in diesem Stil nur eine ziellose Überladung mit Ornamenten sahen, verbirgt sich in Wirklichkeit eine hybride Kunst, die gleichzeitig die Pracht der Ornamentik und den Funktionalismus in hochmodernen Gesamtkunstwerken vereint, in denen von der Struktur des Gebäudes selbst bis zu den kleinsten dekorativen und nützlichen Details alles so konzipiert ist, dass es ein organisches und fließendes Ganzes bildet. Der Jugendstil ist somit ein Vorreiter, indem er versucht, Form, Funktion und Material miteinander zu verbinden, die alle zur ästhetischen Wirkung beitragen sollen.

Das Material ist übrigens der zentrale Punkt dieser neuen architektonischen Formen. Die ausdrucksstarken, reichen und weichen Formen vereinen Intimität und Kraft in der Behandlung und Modellierung von Oberflächen und Texturen. Jedes Material wird so in seiner rohen Schönheit gezeigt, insbesondere das Eisen, eine große Neuheit der Epoche, die man in den sichtbaren Tragstrukturen sieht, die die herrlichen Glasfenster tragen, die alle in Dialog mit Holz, Marmor oder Ziegel stehen, allesamt traditionelle Materialien, die wunderbar bearbeitet und gemeißelt sind. Die schillernde Pflanzen- und Tierwelt inspiriert die Künstler zu erstaunlichen Farbspielen, bei denen Smaragdgrün, goldenes Ocker und tiefes Blau den Raum mit den von ihnen entworfenen Mosaiken und Glasfenstern erhellen. Kurven und Gegenkurven verkörpern die Bewegungen der Seele dieser Künstler, die auch tief von der Symbolik geprägt sind. Aus diesem Grund ist der Jugendstil ein sehr persönlicher Stil.

Brüssel war ein besonders fruchtbarer Boden für diese künstlerische Erneuerung. Die Hauptstadt war zu dieser Zeit ein großes Finanzzentrum und eine fortschrittliche Stadt. So machten sich einerseits die großen Magnaten der neuen Welt zu großzügigen Mäzenen des Jugendstils und gaben zahlreiche Privatpaläste in Auftrag, in denen die Ornamentik selbstverherrlichend war, andererseits errichteten die Architekten Zweckbauten für die breite Öffentlichkeit (Geschäfte, Maisons du Peuple...). Zu den großen Figuren des Jugendstils, deren Werk in Brüssel repräsentativ ist, gehören Victor Horta, Paul Hankar und in geringerem Maße Henry Van de Velde.

Horta setzt seinen Stil durch

Victor Horta wurde als Sohn eines Schuhmachers mit dem Kult der Arbeit und der schönen und gut gemachten Dinge erzogen. Sein Onkel, ein Bauunternehmer, nahm ihn mit auf seine Baustellen, und dort entdeckte der junge Mann seine Leidenschaft für die Architektur. Nach einem harten Kampf mit seinen Eltern, die ihn eher als Anwalt oder Arzt sahen, wurde Horta Schüler der Akademie der Schönen Künste. Nach einem Praktikum bei dem Pariser Architekten und Dekorateur Dubuysson und einem intensiven Studium der großen klassischen Bauwerke zeichnet sich Horta an der Akademie der Schönen Künste in Brüssel aus. Dort erregte er die Aufmerksamkeit des Architekten Alphonse Balat, dem die prächtigen königlichen Gewächshäuser in Laeken zu verdanken waren. Die architektonischen Möglichkeiten des Eisens, die Horta auf diese Weise kennenlernte, prägten ihn nachhaltig.

Er begann eine Zeit, in der er sich mit Wettbewerben und kleineren Bauvorhaben abwechselte, bevor er in die Freimaurerloge "Les Amis Philanthropes" eintrat. Dort lernte er reiche Industrielle kennen, die ihn mit dem Bau von Privathäusern beauftragten. Das Hôtel Autrique tendiert noch zu einem gewissen Klassizismus, während das Hôtel Tassel als das allererste Jugendstilgebäude der Welt gilt. Das Gebäude ist schmal. Doch um dieser Enge entgegenzuwirken, verwendete Horta als zentrales Motiv ein prächtiges Bogenfenster, das von zwei schmalen Flächen aus ockerfarbenen und blauen Steinen flankiert wird, die leicht zur Mitte hin gewölbt sind. Strukturen, Säulen und Balken sind sichtbar, wodurch das Licht freigesetzt wird und die Räume Leichtigkeit und Transparenz erhalten. Horta verwendet auch Farbe, um die Wellenbewegungen der anderen Materialien zu verlängern, wodurch eine große organische Harmonie entsteht. Innovativ waren auch seine prächtige Wendeltreppe, die ganz dem Ornament gewidmet war, und das Glasdach, das den Verkehrsraum zwischen den verschiedenen Räumen des Hauses überspannte. Das Hotel Tassel ist ein Manifest des Horta-Stils. Linien, die von Pflanzenstängeln und -füßen inspiriert sind (was dem Horta-Stil die Bezeichnung "Peitschenstil" einbrachte), Eisenarbeiten in Form von Voluten und Arabesken, helle Glasfenster und die Liebe zum Detail (Horta fertigt absolut alles an, vom Teppich über die Glühbirne bis hin zum Heizkörper) finden sich in den schönsten Werken des Meisters wieder: dem Hotel Solvay, dem Hotel Van Eetvelde und natürlich seinem Atelierhaus. Horta schuf auch Zweckbauten, bei denen der Funktionalismus über die Ornamentik siegte, wie die Bilder des Volkshauses zeigen, das 1965 leider zerstört wurde. Eine Architektur, die zukünftige Entwicklungen ankündigt. Denn so schnell, wie er gekommen war, verschwand der Jugendstil auch wieder und machte Platz für mehr Nüchternheit und Geometrie. Horta begann eine Karriere als Lehrer (u. a. in den USA), bevor er wieder zum Bleistift griff, um große Projekte zu entwerfen, die diesmal entschieden klassisch waren, wie das Brugmann-Krankenhaus, der Palast der Schönen Künste(BOZAR) und der Brüsseler Hauptbahnhof belegen. Trotz dieser Erfolge beendete Horta seine Karriere kritisiert und dann vergessen. Jahrhundert wieder auf, als seine Brüsseler Stadthäuser in die UNESCO-Liste aufgenommen wurden und das Brussels Art Nouveau & Art Deco Festival einen Einblick in ihre prächtigen Innenräume bietet. 2023 wurde das 130-jährige Jubiläum des Hotels Tassel gefeiert und somit der Jugendstil mit der Öffnung von Juwelen wie dem Hannon-Haus (von Jules Brunfaut) und dem Hotel van Eetvelde für die Öffentlichkeit. Ein einzigartiges Kulturerbe, das von einer Epoche erstaunlicher Umwälzungen zeugt.