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Die Vogtei, eine besondere staatliche Struktur

Die Kanalinseln sind Teil der britischen Krone, aber nicht des Vereinigten Königreichs. Sie waren also vor dem Brexit nicht Teil der Europäischen Union und waren vom britischen Austritt aus der EU nicht im eigentlichen Sinne betroffen.
Der König von England ist als Erbe des letzten Herzogs der Normandie der Souverän des Archipels. Diese Besonderheit verschafft den Inseln viele Vorteile, insbesondere den, dass sie ihren Status als "Steuerparadies" behalten können. Die Einwohner sind zwar in erster Linie Jersey oder Guernsey, doch in allen Fragen, die die Außen- und Verteidigungspolitik betreffen, unterstehen die Inseln dem Parlament in London. Alle anderen politischen Fragen werden nach den eigenen Verwaltungsvorschriften der beiden Bailiwicks, einer Art Verwaltungseinheit, geregelt. Zur Bailiwick of Jersey gehören die Minquiers und die Ecréhous, zur Bailiwick of Guernsey die Inseln Alderney, Sark und Herm.

Jede Vogtei hat zwei Persönlichkeiten an der Spitze: den Vogt, der vom König auf Lebenszeit ernannt wird, und den Vizegouverneur, der den König vertritt und in der Regel ein Offizier der britischen Armee ist. Die Befugnisse des Vogts sind sehr weitreichend. Er ist gleichzeitig Chef der Legislative, der Exekutive und der Judikative, was für einen einzigen Mann eine Menge ist. Er verwaltet jedoch nicht allein und entgegen mancher Behauptungen sind die Inseln keine feudalen Staaten mehr, da sie sich weitgehend demokratisiert haben. Die Macht des Vogts wird von den Ständen (englisch " the States of Deliberation " oder einfacher " the St ates") ausgeglichen, die aus allgemein gewählten Vertretern bestehen. Sie erlassen Verordnungen und Dekrete und entscheiden, ob ein bestimmtes Gesetz des Vereinigten Königreichs verabschiedet wird oder nicht. Die Gesetze, die von den States verabschiedet werden, können jedoch nur ein anderes Gesetz ändern und müssen von der britischen Krone genehmigt werden. Auf den Inseln gibt es keine politische Partei, kein Kabinett und keinen Premierminister. Die Abgeordneten werden für drei Jahre gewählt und alle werden je nach ihren Kompetenzen einem der verschiedenen Ausschüsse zugeteilt, die für die Verwaltung der Inseln zuständig sind.

Das Hauptproblem dieser Unabhängigkeit besteht darin, dass sie sich oft kein Gehör verschaffen können. Dies ist die Grenze des Partikularismus des Archipels. Die Unabhängigkeit ermöglicht es den Inseln nicht, bei internationalen Debatten ausreichend präsent zu sein, ihre Stimmen zu erheben und somit ihre Interessen zu verteidigen. Schlimmer noch: Jersey und der Vogt von Guernsey haben große Schwierigkeiten, zusammenzuarbeiten und mit einer Stimme zu sprechen. Die Zukunft wird die Inseln vielleicht dazu zwingen, ihre Kräfte im Bereich der Außenpolitik zu bündeln, um weiterhin "existieren" zu können.

Ein Steuerparadies

Die finanzielle Stabilität der Inselregierung, die Nähe zum Vereinigten Königreich und zum europäischen Festland sowie die niedrigen Steuern ziehen die Finanzindustrie an. Auf Jersey gab es bis 1962, als das Gesetz zur Begrenzung der Zinssätze abgeschafft wurde, keine Steuern. Nach und nach interessierten sich die Geschäftsbanken für die Position, die die Inseln, die ihren Sonderstatus in einem im Aufbau befindlichen Europa beibehielten, einnehmen konnten, und erkannten das Potenzial, das sie für ihre Kunden und damit für ihre eigenen Gewinne darstellen konnten. Denn die auf den Inseln ansässigen Banken unterstehen nicht der Gerichtsbarkeit des Vereinigten Königreichs und können ihren Kunden, die von dem sehr stabilen politischen System der Inseln angezogen und beruhigt werden, Finanz- und Steuerbedingungen anbieten, die jeder Konkurrenz standhalten. Heute haben sich dort Banken aller Nationalitäten niedergelassen und die Finanztätigkeit ist zur tragenden Säule der Wirtschaft geworden. Der Archipel ist daher zu einem internationalen Finanzzentrum geworden, in dem mehr als 100 Banken und über 33 000 Finanzinstitute ansässig sind.
Aus denselben Gründen haben sich viele wohlhabende Einwanderer auf die Inseln zurückgezogen, um den strengen britischen Steuern zu entgehen. Die Inseln bieten also immer noch einen Zufluchtsort für all jene, die vor den Steuern fliehen. Spekulanten dürften dort noch lange das strengste Bankgeheimnis und gleichzeitig Steuerimmunität genießen. Offiziell werden die Kunden äußerst streng kontrolliert, und unerwünschte Personen, z. B. Mafiosi, die ihr Geld waschen wollen, werden in der Regel unwiderruflich abgewiesen, sobald ein Verdacht gegen ihre Aktivitäten aufkommt.

Die Bedeutung der Landwirtschaft

1880 gab es auf der Insel Jersey 2600 Bauernhöfe. Heute zählt sie nur noch knapp 500. Dennoch profitiert die Wirtschaft der Inseln neben dem Tourismus und den finanziellen Einkünften immer noch von dem fruchtbaren Boden, der zusammen mit dem gemäßigten Klima den Anbau von Frühgemüse ermöglicht. Kartoffeln werden im Februar gepflanzt, um im April geerntet zu werden. Es sind Frühkartoffeln, die zusammen mit Tomaten, Kohl und Blumen den Stoff für den Export liefern. Seit dem Krieg hat sich die Landwirtschaft modernisiert und der Anbau in Gewächshäusern hat sich stark ausgebreitet, eine etwas anarchische Ausbreitung, die manchmal die Landschaft verändert hat. Gewächshäuser ragen oft weit in die Landschaft hinein, besonders auf Guernsey, wo man sie überall findet. Es gibt sie in allen Größen, groß oder manchmal auch winzig, wenn sie an ein Einfamilienhaus geklebt sind. Die überraschend hohe Bevölkerungsdichte lässt neben den Gewächshäusern also nicht viel Platz für die Landschaft Guernseys. In den 1960er und 1970er Jahren war die Hauptanbaupflanze dort die Tomate, die Guernsey Tom, die 15 % der gesamten Anbaufläche bedeckte. In den frühen 1980er Jahren ging ihre Produktion aufgrund des Wettbewerbs stark zurück. Die Landwirte mussten neue Produkte anbauen und sich insbesondere auf den Anbau von Kiwis und Blumen umstellen. Auch die Gewächshäuser wurden modernisiert und werden heute (Temperatur und Luftfeuchtigkeit) von Computern gesteuert. Jedes Jahr werden über eine Million Stiefel nach Großbritannien oder ins Ausland exportiert. Auch Aquakulturfarmen wurden gegründet, vor allem für die Austernzucht.
Auch Kühe und Ochsen wurden zur Fleischgewinnung und zum Melken gezüchtet. Ab dem 18. Jahrhundert waren die Milchprodukte der Inseln mit ihrem besonderen Geschmack im Vereinigten Königreich so beliebt, dass man eine strengere Auswahl der Tiere vornahm, um Rassen zu züchten, die nach den Inseln benannt wurden. Die Milchprodukte werden weiterhin exportiert, auch wenn die Zahl der Tiere jedes Jahr tendenziell sinkt. Es ist auch ein wichtiger Wirtschaftszweig, da die Inseln sich selbst mit Milch, Butter, Joghurt sowie frischer Sahne versorgen.

Tourismus, eine Säule der lokalen Wirtschaft

Der Tourismus ist in jeder Hinsicht eine der wichtigsten Aktivitäten des Archipels. Er machte (vor der Covid-19-Pandemie) etwa 20 % des BIP aus. Die Fremdenverkehrsbüros sind sehr dynamisch und heben die zahlreichen Vorteile des Reiseziels hervor. Vorteile, die es den Inseln ermöglicht haben, zahlreiche Besucher anzuziehen, sowohl wegen des Charmes von Spaziergängen am Meer, der Freude am Baden an großen Sandstränden, der familiären Atmosphäre oder einer sicheren Abwechslung nur wenige Minuten von der französischen Küste entfernt. Die Inseln wollten aber auch das Image der "Rentnerinseln" zerstören und warben für vielfältige Aktivitäten, die von einer erlesenen Gastronomie bis hin zur Ausübung zahlreicher Extremsportarten reichten. So gibt es sowohl auf Jersey als auch auf Guernsey immer mehr Festivals und Veranstaltungen. Doch der Brexit versetzte den Tourismuszahlen im Jahr 2022 einen herben Dämpfer. Ein Jahr später ließ die Genehmigung von Tagesaufenthalten ohne Reisepass (mit Personalausweis) die Zahlen in die Höhe schnellen, und Ende 2023 wurde die Maßnahme mindestens bis zum 30. September 2024 verlängert. Bevor man zu dreitägigen Aufenthalten übergeht? Affaire à suivre ...

Fischerei als neuer Post-Brexit-Konflikt

Die Wirtschaft der Inseln besteht auch aus dem Meer und seiner Nutzung. Der Tourist, der es eilig hat, anzukommen, nimmt sich oft nicht die Zeit, das Meer zu betrachten. Die Trawler beim Fischfang sind für ihn ästhetische Objekte, die kleinen roten Bojen auf dem Meer, die den Platz für die Reusen markieren, sind höchstens eine Kuriosität. Und die Gruppen von Trawlern, die in den Hafen zurückkehren oder ihn verlassen, sind nur ein prächtiges Schauspiel. Doch hinter diesen Schiffen stehen Tausende von Arbeitsplätzen und das Überleben von Familien auf dem Spiel. Vereinfacht gesagt liegen die Kanalinseln inmitten eines Quadrats mit einer Seitenlänge von etwa 120 km, was mehr als einer Million Hektar Meeresfläche entspricht. Während es an Land einfacher ist, ein Feld abzugrenzen, ist es auf See eine andere Sache, Grenzen zu ziehen. Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wird gemeinsam gewirtschaftet oder es werden Gebiete abgegrenzt. In beiden Fällen sind die menschlichen Probleme manchmal Überlebensprobleme und enden nicht selten in Kriegen, wie mehrere aktuelle Beispiele in Europa und der Welt zeigen.
Die Frage der Fischereirechte gibt es schon seit Jahrhunderten. Und sie ist nach dem Brexit und dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union mit voller Wucht wieder in den Vordergrund gerückt. Konkret bedeutet dies, dass Fischer, die aus französischen Häfen auslaufen, sich quasi direkt in britischen Gewässern wiederfinden und daher eine Lizenz benötigen. Und viele blieben dann auf der Strecke, da die Lizenzen sehr kompliziert zu bekommen sind. Umgekehrt drohte die französische Regierung den britischen Fischern daraufhin, dass sie die Früchte ihres Fischfangs nicht mehr in den normannischen Häfen verkaufen dürften. Es folgte eine Ruhephase zwischen 2022 und 2023, in der die französischen Fischer wieder in den anglonormannischen Gewässern tätig sein konnten. Danach war die Situation fast wieder so, wie sie vor dem Brexit gewesen war. Am1. Februar 2023 traten neue Genehmigungen in Kraft, um "Umfang und Art" des Fischfangs zu kontrollieren. Diese neuen Auflagen haben die Spannungen sicherlich wieder angeheizt. Es bleibt (wieder einmal) spannend...