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Historische Perspektive: Berlin, rebellisch und protestierend

Während des Kalten Krieges war West-Berlin ein attraktiver Ort für viele Künstler und Studenten. Aufgrund seines Status war es der einzige Ort in Westdeutschland, an dem der Militärdienst nicht obligatorisch war. Auch wenn es heute schwierig ist, die Zahl der jungen Männer zu beziffern, die nach Berlin zogen, um dem Wehrdienst zu entgehen, so hat die Stadt doch eine pazifistische und kreative, gewaltfreie, antiautoritäre, gegen den Vietnamkrieg eingestellte Jugend angezogen, die bereit war, neue Lebensweisen zu erfinden, die grundsätzlich antikonsumorientiert und vor allem nonkonformistisch war. Kurz gesagt, eine Jugend, die von anderen Idealen als denen des "Wirtschaftswunders" angetrieben wurde. In den 1980er Jahren war Berlin für seine Musikszene und für seine Punk-Clubs bekannt. Berlin, insbesondere Kreuzberg, erlebt auch eine Welle von Hausbesetzern. In den schlecht gepflegten Mietskasernen werden neue Lebensweisen improvisiert. Man besetzt einen Raum illegal, während man ihn nach und nach renoviert. So hat sich West-Berlin in der Nachkriegszeit ein Image als offene, kreative und nonkonformistische Stadt geschaffen, das die Entstehung von Street Art begünstigt.

Die Berliner Mauer

Wenn man an Berliner Street Art denkt, fällt einem wahrscheinlich zuerst die Mauer ein. Die vier Meter hohe Betonmauer, die schon bei der Grundsteinlegung verhasst war, bleibt nicht lange grau - zumindest im Westen. Sie ist eine ideale Fläche für Graffiti-Künstler aller Art, zumal die Mauer mitten durch den Bezirk Kreuzberg verläuft, der das Hauptquartier der alternativen Jugend ist. Nach dem Fall der Mauer schufen 118 Künstler aus 21 verschiedenen Ländern Graffiti auf dem Teil der Mauer, der in Friedrichshain entlang der Spree verläuft. Einige wurden sogar ikonisch: Dazu gehören der Breschnew-Honecker-Kuss, der Mann, der über die Mauer steigt, die großen bunten Gesichter des französischen Graffiti-Künstlers Thierry Noir usw. Kurz nach seiner Fertigstellung wurde das riesige, 1,3 km lange Wandgemälde geschützt und unter Denkmalschutz gestellt. Heute wird es als East-Side-Gallery bezeichnet.

Die Jahre um 1900

Nach dem Fall der Mauer erlebte die Street Art in Berlin einen Boom. Die Stadt ist voll von Brachflächen und verwahrlosten Orten, im Westen, aber vor allem im Osten, wo viele Fabriken schließen müssen. Die Künstler eignen sich diesen öffentlichen Raum durch künstlerischen Ausdruck wieder an. Graffiti, Schablonen und Sticker sollen einen Kontrapunkt zur grauen Umgebung setzen. Sie sind auch eine wunderbare Antwort auf die Aggressivität der Werbung in der Stadt. Doch nach und nach weichen die freien Flächen neuen Gebäuden. Die alten, bemalten Fassaden werden aufpoliert, die Gebäude an den Meistbietenden verkauft und in Luxuswohnungen umgewandelt. Durch die Gentrifizierung werden die bevorzugten Flächen für Street Art jedes Jahr kleiner. Aus Protest gegen ein Immobilienprojekt beschließt der Künstler Blu 2014, sein eigenes Werk zu zerstören. Es ist eines der ikonischsten Werke der Stadt und zeigt einen Mann in Hemd und Krawatte, dessen Hände mit zwei goldenen Uhren gefesselt sind.

Urban Nation

"Und ich werde zum gegenwärtigen Augenblick sagen: Bleib noch ein wenig! Du bist so schön!". Dieses Paradoxon, das Goethe in seinem gleichnamigen Stück Faust in den Mund legt, könnte man auch auf die Straßenkunst anwenden. Man kann versucht sein, das Leben von Werken, die im öffentlichen Raum produziert werden, verlängern zu wollen, sie vor ihrer Verletzlichkeit zu retten, indem man sie konserviert und musealisiert. Aber verstößt das nicht gegen ihren eigentlichen Charakter, nämlich den, temporär zu sein? Seit 2017 beweist uns ein Berliner Museum das Gegenteil: Urban Nation. Dieses Museum in Schöneberg stellt Berliner und internationale Künstler aus. Seine Fassade ist eine Kuriosität an sich, denn sie wird regelmäßig verändert, umgestaltet und neu dekoriert. Urban Nation kann als eine Initiative gelesen werden, die die Street Art vor ihrer Zerbrechlichkeit und Vergänglichkeit retten will. Man wird ihr jedoch nicht vorwerfen können, diese Kunstform zu versteinern, ganz im Gegenteil! Urban Nation hält die Berliner Street Art am Leben, indem sie Projekte in der Stadt initiiert, Künstler unterstützt, Residenzen und Ausstellungen organisiert und vieles mehr. Das beweist, dass musealisieren nicht mumifizieren bedeutet. Und die Institution ist jenseits des Verdachts, die Aktivität kommerzialisieren zu wollen: Der Zugang ist kostenlos!

Berlin Mural Fest

Herakut ist ein deutsches Künstlerduo, das aus Jasmin Siddiqui (Hera) und Falk Lehmann (Akut) besteht. Ihre Werke, meist riesige Wandgemälde, zeichnen sich durch ein großes zeichnerisches Gespür aus. Ihre Figuren, Menschen, Tiere und Fantasiewesen, scheinen geradewegs einer Graphic Novel entsprungen zu sein, und man könnte beim Betrachten der Bilder meinen, ein Skizzenbuch mit schönen, mit Bleistift ausgeführten Illustrationen aufgeschlagen zu haben. Die Wandmalereien des Duos Herakut werden oft von einem Aphorismus mit poetischer oder meditativer Bedeutung begleitet. Einige ihrer Werke sind in Charlottenburg, Kreuzberg oder Moabit zu finden.

Vielleicht begegnen Ihnen bei einem Spaziergang auch die hübschen Frauenporträts von El Bocho, dem Künstler, der in Berlin lebt und arbeitet. Die meisten seiner Werke in der Stadt sind "paste-ups", d. h. mit Klebstoff befestigte Plakate. Seine kleine "Lucy" (inspiriert von einem tschechischen Zeichentrickfilm aus den 1980er Jahren) bevölkert seit einigen Jahren die Straßen von Berlin. Man sieht sie oft dabei, wie sie ihre Katze misshandelt.

Manche Künstler hinterlassen einen Fußabdruck in der Stadt, der keinen Zweifel an ihrem Urheber lässt. Dies ist zum Beispiel der Fall des Künstlers Kripoe, der dafür bekannt ist, Fäuste in allen Ecken der Stadt zu verteilen, die oft von der S-Bahn aus zu sehen sind. Zwischen blassrosa und gelb-orange zeichnen sich diese Fäuste durch ihre dicken schwarzen Umrisse aus.

1UP ist ein Graffiti-Kollektiv aus Kreuzberg, das im öffentlichen Raum Berlins besonders präsent ist. Sie haben ihren Namen - eine Abkürzung für One United Power - zu einer Signatur gemacht, einem Markenzeichen, das an den unwahrscheinlichsten Orten der Stadt angebracht wird. Als Anhänger des "Throw-up" - einer Blitzgraffiti-Technik - verschönern die Künstler von 1UP regelmäßig die U-Bahn-Waggons der BVG und haben bereits über 300 Anzeigen bei der Berliner Polizei gegen sie eingereicht. Die Methode des "Rollerbombing" - bei der Wandfarbenrollen mit Teleskoparmen eingesetzt werden - ermöglicht es ihnen, bis an die Spitze von Fassaden und auf Dächer zu gelangen. Also Augen auf!

Die Bezirke, in denen man heute in Berlin Street Art sehen kann

Street Art ist per Definition vergänglich, veränderlich und verletzlich; es ist nicht möglich, mit Sicherheit zu sagen, ob die Werke von heute auch morgen noch im öffentlichen Raum zu finden sein werden. Aber einige Bezirke sind beliebte Orte für die Graffiti-Künstler der Stadt und es ist sehr wahrscheinlich, dass Sie bei einem Spaziergang durch Friedrichshain, Kreuzberg und Schöneberg hier und da auf Street Art stoßen werden. Im Bezirk Mitte wirkt das Haus Schwarzenberg wie ein Überlebender. Diese Ansammlung von Hinterhöfen hätte genauso gut eine Reihe von Kunstgalerien und Boutiquen mit gelecktem Charme werden können (wie die benachbarten Hackeschen Höfe), aber dieser Ort hat sich seine destroydige und alternative Ästhetik bewahrt. Es ist ein eher kleiner Ort, aber Sie werden viele Graffiti, Sticker und Collagen sehen. Die Fassaden sind übersättigt und es wäre sehr schwer, neue Flächen zum Dekorieren zu finden. Wir können mit Sicherheit darauf wetten, dass Sie bei einem Wochenendausflug zum Mauerpark Graffiti-Künstler sehen werden, die das Stück Mauer, das in diesem Park erhalten geblieben ist, wieder schön machen. Gehen Sie den Hügel hinauf und folgen Sie dem Geruch des Sprays. Um die ausgetretenen Pfade zu verlassen, gehen Sie in den Bezirk Steglitz, der eher bürgerlich und wohnlich ist. Auf der Schloßstraße, einer Einkaufsstraße, am gleichnamigen U-Bahnhof sehen Sie eines der ungewöhnlichsten Gebäude Berlins. Das von den Berlinern als "Bierpinsel" bezeichnete Hochhaus aus den 1970er Jahren sieht futuristisch aus. Eine Zeit lang beherbergte er ein Restaurant. Seine zukünftige Nutzung steht noch nicht fest. Immerhin wurde er 2010 von internationalen Street Artists in ein neues Gewand gehüllt, das ihm neue Farben verleiht.