Jean-Pierre et Luc Dardenne au Festival de Cannes en 2019 © Andrea Raffin - shutterstock.com.jpg

Von einem realitätsnahen Kino

Die belgische Filmkunst erlebte in den 1990er Jahren einen Aufschwung mit einem realitätsnahen Kino, das wirklich von einem sozialen Charakter geprägt war. Der Dokumentarfilm hat natürlich einen wichtigen Platz im belgischen Kino , dank Werken wie Gigi, Monica... und Bianca (1996, Yasmina Abdellaoui, benoît Dervaux), Cinéastes à tout prix (2004, Frédéric Sojcher) oder jüngst L'homme qui répare les femmes (2014, Colette Braeckman, Thierry Michel). Der Dokumentarfilm folgt Dr. Denis Mukwege, einem Gynäkologen und Menschenrechtsaktivisten im Kongo, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, kongolesische Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, zu reparieren. Bei den Spielfilmen sind die unbestrittenen Meister des Genres zweifellos die aus Lüttich stammenden Brüder Jean-Pierre und Luc Dardenne. Von ihren Anfängen als Dokumentarfilmer bis zu ihrem weltweiten Erfolg mit ihren Spielfilmen legen "die Brüder" großen Wert darauf, den sozialen Charakter ihrer Werke zu unterstreichen. Mit Rosetta (1999) und L'Enfant (2005) gewannen die Dardennes den begehrtesten Preis des Filmfestivals von Cannes: die Goldene Palme. In der jüngeren Vergangenheit wurde ihr Film Deux Jours et une nuit (2014) mit Marion Cotillard als bester ausländischer Film für den Oscar nominiert. Ihr neuester Film ist Tori und Lokita (2022), in dem ein afrikanischer Junge und ein Mädchen im Teenageralter Freundschaft schließen und sich gemeinsam den Schwierigkeiten und Schrecken des Lebens als Migranten stellen. Dieses Werk war ein weiterer Erfolg: Die Dardennes erhielten bei den letzten Filmfestspielen von Cannes im Jahr 2022 den Sonderpreis der 75. Ebenfalls in dieser Sphäre des Realismus sind Werke wie Ma vie en rose (1997) von Alain Berliner, Ultra Nova (2005) von Bouli Lanners, Nos batailles (2018) von Guillaume Senez mit Romain Duris, Seule à mon mariage (2018) von Martha Bergman oder jüngst Lola vers la mer (2019) von Laurent Micheli zu nennen. Auch wenn die Suche nach dem Authentischen einen festen Platz im Herzen des belgischen Kinos hat, ist dennoch ein Aufstieg von schrägen Werken zu beobachten, die von Künstlern mit starken Regieentscheidungen und einem bereits definierten Universum realisiert werden.

... zu einem Genrekino

Die letzten beiden Jahrzehnte brachten eine Welle von visionären und frechen Regisseuren hervor, allen voran Jaco Van Dormael, ein Regisseur aus Ixelles. Van Dormael beeindruckte bereits mit seinem ersten Spielfilm Toto le héros (1991), der den César für den besten ausländischen Film und die Goldene Kamera bei den Filmfestspielen in Cannes in diesem Jahr gewann. Es folgte der bewegende Film Huitième Jour (1996) über die Begegnung zwischen Harry (Daniel Auteuil), einem Workaholic, und Georges (Pascal Duquenne), einem jungen Mann mit Trisomie 21. Van Dormael gelang jedoch ein Geniestreich mit Mr. Nobody, dem bis dato teuersten belgischen Film mit einer beeindruckenden Besetzung (Jared Leto, Rhys Ifans, Diane Kruger usw.). Der Regisseur brauchte sieben Jahre, um dieses komplexe Werk zu schreiben, das bei seiner Veröffentlichung 2009 von der Kritik gefeiert wurde. Besonders bei flämischen Künstlern kann man eine ausgeprägte Persönlichkeit und eine gewisse Essenz beobachten, die nach dem Vorbild des englischen Kinos besonders gut erkennbar ist. Diese Persönlichkeit wurde vor allem durch den Genter Felix Van Groeningen geprägt, der 2009 den bemerkenswerten Film La Merditude des choses herausbrachte. Zwei Jahre später war es Michaël R. Roskam, der sich mit seinem Film Bullhead, der den Schauspieler Matthias Schoenaerts einem breiten Publikum bekannt machte, einen Platz im belgischen Kino eroberte. Der Film wurde für den Oscar und den César in der Kategorie Bester ausländischer Film nominiert. 2012 kehrte Van Groeningen mit dem wunderschönen Alabama Monroe zurück, in dem es um die unterschiedliche Reaktion zweier Eltern auf den Verlust ihres Kindes geht. Dieser rohe und zugleich intime Film erhält 2014 eine Nominierung in der Kategorie Bester ausländischer Film. In den letzten Jahren bringen neue Regisseure einen frischen und schlagkräftigen Wind in das belgische Kino. Zu nennen sind hier Robin Pront und der Thriller The Ardennes (2015), François Troukens und Tueurs (2017) sowie Adil El Arbi und Billal Fallah und der Faustschlagfilm Black. 2018 wurde das belgische Duo ausgewählt, um den Blockbuster Bad Boys for Life (2020, Fortsetzung des legendären Bad Boys) mit Will Smith und Martin Lawrence zu inszenieren. Im selben Jahr drehte der junge Lukas Dhont den wunderschönen Film Girl, der sich mit dem Thema Transidentität befasst. Der von der Kritik gefeierte Film wurde bei den Filmfestspielen in Cannes mit vier Preisen ausgezeichnet, darunter die Goldene Kamera. Sein zweiter Film, Close, der 2022 in die Kinos kam, ist ebenso erschütternd. Der Film erzählt die Geschichte einer widersprüchlichen Freundschaft zwischen zwei Jungen und ist Gewinner des Großen Preises bei den Filmfestspielen von Cannes und im Rennen um den Oscar für den besten fremdsprachigen Film.

Das Jahr 2018 bringt auch Duelles, ein französisch-belgisches Drama unter der Regie von Olivier Masset-Depasse, das 2020 bei der Verleihung der Magritte du cinéma neun Preise gewann. Im Jahr 2023 kam ein Hollywood-Remake mit Jessica Chastain und Anne Hathaway in den Hauptrollen heraus.

Belgischer Humor auf der Leinwand

Während sich die flämische Region im dramatischen Genre auszeichnet, glänzt die Wallonie hingegen mit ihrem grimmigen Humor. 1992 brachten der Schauspieler und Regisseur Benoît Poelvoorde aus Namur, André Bonzel und Rémy Belvaux den kontroversen Film C'est arrivé près de chez vous in die Kinos. Der Film entstand im Rahmen des Abschlussprojekts von Rémy Belvaux, der zu dieser Zeit an der renommierten Brüsseler Filmhochschule INSAS studierte. Als eine Art entfernte Mise en abyme ist der Film im Stil eines Dokumentarfilms gedreht und zeigt ein wackeliges Team von Regisseuren und Kameraleuten, das Benoît, einem folkloristischen Auftragskiller, folgt. Der Film war damals sehr umstritten: Grund dafür waren die Szenen körperlicher und sexueller Gewalt sowie die sogenannte Sequenz des kleinen Grégory". Der schwarze Humor erreicht seinen Höhepunkt in dieser Szene, in der Ben das Rezept für einen Cocktail erklärt, der nach dem berüchtigten kleinen Gregory benannt ist, der in den 1980er Jahren ermordet wurde. Das Werk spaltet auch 30 Jahre später noch die Gemüter, wird von den einen als Kult, von den anderen als Schande kategorisiert. Dennoch gewann der Film den SACD-Preis und das Jugendspezial bei den Filmfestspielen von Cannes 1992. 1999 war Benoît Poelvoorde erneut als Schauspieler an der Seite von Bouli Lanners in dem Film Les Convoyeurs attend zu sehen, bei dem der Belgier Benoît Mariage Regie führte. Die Kritiker lobten die schauspielerische Leistung und den bittersüßen Aspekt, der das gesamte Werk durchzieht. 2006 brachte Olivier Van Hoofstadt mit Dikkenek einen Film heraus, der in die Fußstapfen von C'est arrivé près de chez vous trat. Die Komödie, die auch in Belgien Kultstatus erlangte, vereint eine Reihe bekannter Schauspieler: Marion Cotillard, François Damiens, Mélanie Laurent, Catherine Jacob, Jean-Luc Couchard, Dominique Pinon... Wie sein Vorläufer spaltete Dikkenek die Kritiker und wurde in Sekundenbruchteilen von einem albernen und perversen Film zu einem Meisterwerk des Humors. Ein Jahr später brachte der Regisseur Sam Garbarski den komischen Film Irina Palm mit Marianne Faithfull in der Hauptrolle heraus. Im Jahr 2009 machte der Brüsseler Regisseur Nabil Ben Yadir mit Les Barons auf sich aufmerksam. Die in verschiedenen Vierteln der belgischen Hauptstadt (Molenbeek, Saint-Gilles, Forest...) gedrehte Komödie verfolgt den Alltag von vier arbeitslosen Freunden, die sich als die Barone des Viertels bezeichnen und Experten in Sachen Tricksereien sind. In jüngerer Zeit besetzte Jaco Van Dormael die Rolle des Gottes in seiner surrealen Komödie Le Tout Nouveau Testament (2014) mit Benoît Poelvoorde. Poelvoorde spielt einen hässlichen, schmutzigen und gemeinen Gott, dessen Arbeit durch die Entscheidung seiner Tochter, das Datum und die Uhrzeit des Todes jedes Menschen auf der Erde durchsickern zu lassen, durcheinander gebracht wird. Die kleine Ea macht sich daraufhin auf die Suche nach sechs neuen Aposteln, um das "allerneueste Testament" zu verfassen. 2017 brachte Bouli Lanners Les Premiers, les Derniers (Die Ersten, die Letzten) heraus, wo er die Leinwand mit Albert Dupontel teilte. Der Film über die Abenteuer zweier Kopfgeldjäger gewann 2017 fünf Magritte, darunter den für den besten Film.

Auf dem kleinen Bildschirm

1985 brachte uns die Wallonie ein Programm, das das Bild eines folkloristischen und charakterstarken Belgiens widerspiegelte: Strip-Tease. Diese Dokumentarsendung, die von Jean Libon und Marco Lamensch kreiert wurde, zeigt uns Teile des Lebens von Durchschnittsbürgern. "Strip-Tease: Die Sendung, die Sie auszieht" ist ein einprägsamer und bildhafter Titel, der die Art und Weise beschreibt, wie sich die Probanden vor dem Regisseur und dem technischen Team "entblößen". In dieser komischen, aber intimen Sendung findet sich jeder Zuschauer ein bisschen (oder viel) in den schillernden Charakteren wieder, die die Sendung ausfindig macht. 2018 veröffentlichten die Macher der Sendung den abendfüllenden Dokumentarfilm Ni juge, ni soumise, der einige Monate lang die Arbeit der Brüsseler Untersuchungsrichterin Anne Gruwez (die bereits im Mittelpunkt von zwei Strip-Tease-Episoden im Fernsehen stand) begleitet. Der starke Charakter der Richterin sowie die Auswahl der Angeklagten machen den Erfolg des Films aus, der 2019 sowohl den Magritte als auch den César für den besten Dokumentarfilm gewinnen wird. Im Bereich der Serien bietet uns die wallonische Region La Trêve und Ennemi public. Diese beiden Serien entstehen nach einem Projektaufruf des Fernsehsenders RTBF und der Fédération Wallonie-Bruxelles, der die Entwicklung mehrerer französischsprachiger belgischer Serien zum Ziel hat. Die beiden Polizeiserien teilen sich nicht nur ihren Platz im belgischen Fernsehen, sondern auch die französischen Spotlights, wobei La Trêve auf France 2 und Ennemi Public auf TF1 ausgestrahlt wird. Flandern hingegen verführt uns mit Programmen wie Clan (2012, von dem Apple TV das Remake Bad Sisters gemacht hat), Spitsbroers (2015) oder Professor T. Die 2015 entstandene Serie folgt den Abenteuern des Kriminologieprofessors Jasper Teerlinck und ist international so erfolgreich, dass sie französische und deutsche Remakes bekommt. Zu erwähnen ist auch WtFock (2018), die flämische Version der norwegischen Serie Skam (2015), die sich zu einem knappen Dutzend Remakes (darunter die französisch-belgische Version Skam France) hinzugesellt. Jede Staffel der Serie greift ein bei Jugendlichen aktuelles Thema wie Mobbing in sozialen Netzwerken, Einwilligung, Homosexualität oder Religion auf und begeistert damit nicht nur Jugendliche in Belgien, sondern auch auf der ganzen Welt. Seit 2019 dreht sich die von Nico Moolenaar geschaffene Serie Undercover um einen weltweiten Ecstasy-Produzenten auf einem Campingplatz in Limburg, dessen Netzwerk von zwei Polizisten infiltriert wird. Und die hyperaktiven Adil er Bilall haben für Netflix Grond gedreht, eine Serie, in der der Protagonist beschließt, sein kleines Unternehmen für den Handel mit marokkanischer Erde zu gründen, damit Marokkaner in Belgien sich hier begraben lassen können.